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GEO Saison, Januar 2007                                                                                                  zurück zur Übersicht

Ganz weit weg aufs Land

Höchst entspannt ist der Lebensrhythmus, hier im Nordosten Brandenburgs. Die Einheimischen bewahren Ruhe, und Zugereiste finden bisweilen im Schäfchenzählen ihre neue Berufung. Bringen Sie  Geduld mit – umso schneller werden Sie ankommen

„Kommakommakomma“, schallt der Ruf über den Welsebruch, und Lollo rast heran. Sie stoppt abrupt und schnuppert an der schwieligen Hand von Peter Kloss. Der tätschelt ihr den Kopf. „Lollo ist die Chefin“, sagt er, „ich erkenne sie am Gesicht.“ Viel mehr ist auch nicht zu sehen von Lollo, der das Fell wie zerfetzter Filz am Körper hängt. Sie gehört zur Rasse der Skudden – kniehohe Landschafe, die gut in die Uckermark passen. „Die fressen alles weg, auch Disteln und Schlehen“, sagt Kloss. Er streicht sich über die Glatze und schlappt in Gummigaloschen mit der knabbernden Lollo an der Hand hinüber zu den 64 anderen Fellhaufen. „Naja, ich bin spät dran mit dem Scheren.“

Hetzen lässt er sich nicht, der Neusiedler Kloss. Deshalb ist er hier. Der 61-jährige Fertigungsingenieur aus Berlin fand Anfang der neunziger Jahre in der Uckermark erst Arbeit und Stress, später mit seiner Schäferei das Glück. In Karohemd und löchriger Hose zieht er mit seiner meckernden Herde umher, rund um Biesenbrow, diesen Flecken aus Feldsteinkirche, Bushaltestelle und einer Handvoll niedriger Häuschen an der Durchgangsstraße, im größten Landkreis Deutschlands. Er streift über das „Unland“ aus Wildkraut, das Schilf der Niederungen, die samtigen Wiesenhügel, an Wäldern entlang, um stahlblaue Eiszeitseen herum. Über seinem Kopf spannt sich der Himmel, Störche ziehen dahin; keine Straße, kein Hochspannungsmast, kein Mensch in Sicht.

Weit, weit ist dieses Land nördlich von Berlin, 3000 Quadratkilometer groß, mit nur 140000 Einwohnern zwischen der Oder und Lychen, wo der Uhrmacher Johann Kirsten 1902 die Reißzwecke erfand. Es ist einfach da und vermittelt das Gefühl, so viel Himmel sei sonst nirgends. Schwer zu sagen, wie die Uckermark das macht. Vielleicht ist hier so viel Himmel, weil so wenig von ihm ablenkt.

Um die Uckermark zu erleben, muss der Reisende sie nehmen, wie sie kommt: langsam. „Man braucht ein Auge für diese Landschaft“, sagt Peter Kloss, „und das richtige Tempo.“ Er erlebt es oft, wenn er Gäste aufnimmt im ehemaligen Stall seines Vierseithofes: „Sie kommen als Nervenbündel an, wollen machen, machen, machen. Wenn sie hören, dass der nächste Supermarkt 17 Kilometer entfernt ist, werden sie still. Nach drei Tagen kommen sie zur Ruhe, sägen Holz, sammeln Schnecken, liegen im Gras.“ Dann knabbert Amira an ihren Füßen, die Ziege, die in Biesenbrow vom Laster fiel. Sein Pferd hat Kloss von Nachbarn übernommen, weil es an Bronchitis litt. Jetzt kürzt es die Wiese im Hof, sucht Schatten unterm Holunderbusch. „Wir leben einfacher hier“, sagt Peter Kloss in seiner gekalkten Küche, über sich den schwarz gepunkteten Fliegenfänger. Wenn die Schicht aus Mist im Schafstall so hoch geworden ist, dass der Schäfer beim Füttern mit dem Kopf an die Decke stößt, weiß er: Der Winter ist vorüber, es wird Frühling.

Die Sehnsucht nach Überschaubarkeit, nach Platz treibt Neusiedler wie ihn in die Uckermark. Pensionäre, Freiberufler, Künstler. Nach der Wende zog der Treck gen Westen, nun kommen andere zurück, finden Zuflucht in Dörfern, die kein Wirtschaftswunder verschandeln konnte mit Klinkern und Parkbuchten. Die paar Autos finden Platz auf den Sandstreifen neben den Kopfsteinpflasterstraßen. Vor 100 Jahren zogen Pferde auf denselben Streifen Getreidewagen in die Speicher.

So ist das in der Uckermark. Ein Leben auf altem Land, wo vieles so aussieht wie auf vergilbten Postkarten in liebevoll eingerichteten Heimatstuben. Tiefgezogene Dächer auf rotem Backstein, an dem sich wilde Rosen oder Lupinen emporranken, ohne Zaun davor. Unkraut zwischen Gehwegplatten. Moos in Dachrinnen. Störche auf den Schloten aufgelassener Kornbrennereien. Schilf an rasengesäumten Feuerlöschteichen, daneben trutzige Feldsteinkirchen, denen das Gras bis ans Eingangsportal wächst. Die Bushäuschen sind die modernsten Bauten in Biesenbrow und anderswo.

Es ist ein Leben ohne Terminkalender. Frauen in Kittelschürzen ziehen neben verwitterten Gutshäusern Möhren aus dem Sand. Männer hocken in Unterhemden auf Bänken an der Straße. In Küstrinchen senst ein Mann Gras auf der Pferdewiese mitten im Dorf. Er hat einen Goldzahn im Mund, Schweißperlen auf der Stirn, und er sagt: „Jungchen, für den Weg weiter nimmst du die Hauptstraße. Die Nebenstrecke ist kürzer, aber dort brechen die Achsen.“ Enge Überlandpisten und mächtige Alleenbäume zwingen den Reisenden zur Langsamkeit. Feldlerchen singen ihr Lied, wer will, kann anhalten, kratzige Ähren fühlen, an Kornblumen schnuppern, dem Land lauschen.

Die Zeit scheint rückwärts zu laufen. Am Bahnhof von Friedrichswalde kurbelt Astrid Tietz ratternd die Schranken herunter, wie vor 37 Jahren, als sie anfing in diesem verwitterten Fachwerkhäuschen unterm verrosteten Stationsschild. Mit der Bahn wurde das Land erschlossen, damit Berlin nicht verhungert. Doch nun wird Strecke für Strecke stillgelegt. Gras frisst Stahl. „Nach der Wende ging’s bergab“, sagt Astrid Tietz, „die Wende brachte die Autos.“ Zwei gelbe Triebwagen halten kreischend, es sind kaum Passagiere darin. „2012 wird hier wohl endgültig Schluss sein“, meint Astrid Tietz.

Ein schnelles Land war die Uckermark nie. Beinahe entvölkert nach dem Dreißigjährigen Krieg, wiederbesiedelt von Hugenotten und anderen Kolonisten. Neue Heimat für die Ost-Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs, verlorene Heimat für die Arbeitsuchenden von heute. Und immer Roggen, Gerste, Hafer, Mais. Dazwischen verstreute Dörfer. Hier war nie etwas, was die Massen anzog. Die eiszeitgeformten Hügeläcker sind mitunter so steil, dass Traktoren auf geradem Weg nur herunter, nicht aber hinauf fahren können.

Ernten. Säen. Dazwischen legt sich der Winter wie Watte über das Land. Werner Kothe liebt die Zeit, wenn die reetgedeckten Katen in Annenwalde weiße Mützen tragen und die Uhr der Dorfkirche gedämpft durch gepuderte Bäume schlägt. Der Glaskünstler kam in den Achtzigern aus Ostberlin. Hinter seinem Haus, von Erlen verborgen, ein See. „Im Nebel bist du ganz für dich“, schwärmt Kothe, „und wenn die Sonne auf das Eis scheint, knarzt es mystisch.“ Er will nie mehr weg. Höchstens nach Templin, zum Einkaufen.

Templin, im Südwesten der Uckermark, wo hinfährt, wer unter Leute will, schimmert wie eine blankgeputzte Perle zwischen grünblauen Seen. Die Stadt ist eingefasst von einer sieben Meter hohen Feldsteinmauer, hinter der fleißige Bürger Arme voll Rhabarber und Blumen aus gewässerten Gärten schleppen. Katzen sonnen sich an Straßenecken, gelb und rot schimmert niedriges Fachwerk im Abendlicht. Die Jugend quält ihre Mopeds um den Marktplatz, Paare rudern über den See.

Sie küssen einander, wo Torsten Fahig jeden Tag mit der Natur ringt. Morgens um sieben hängt der Fischer hinter der Stadtmauer Forellen in den Rauch, eben hat er ihnen „vor den Kopp gehauen“. Er holt zudem Zander, Hecht, Barsch und Aal aus dem von duftendem Wald gesäumten Templiner See. Oder auch nicht. „Da liegen Steine im See“, stöhnt er, „groß wie ein Eigenheim, die hau’n mir das Netz kaputt.“ Im Sommer kann Fahig kaum genug Fische fangen, die Touristen futtern ihm alle weg. Rentner ziehen zu, für ein Alter in Ruhe. „Templin ist keine Geisterstadt“, sagt Fahig, „anders als viele Orte drum herum.“

Ärzte, Altenpfleger und Bestatter machen hier die besten Geschäfte, so lautet ein bissiger Spruch in der Uckermark. Stadtflüchtige Berliner und Lebenskünstler können die Lücken nicht füllen, die Zeit und Wegzug gerissen haben. Selten hält sich ein Laden. In die Kneipen gehen die Neulinge kaum. „In 13 Jahren sind 13 Gäste gestorben, aber keiner ist nachgekommen“, sagt Sabine Aldinger, die schmale Wirtin der „Kröte“ in Schmargendorf. An ihrer blitzenden Theke hocken die Hiergebliebenen. Freddy, der Glaser. Gerd mit dem Rückepferd. „Roland mit dem Bauch“ bringt selbstgebackenen Obstkuchen, und sie reden in verwunschenem Slang über das Wild in der Schorfheide. Sabine Aldinger will nicht weg aus Schmargendorf. Sie versorgt sich selbst. In ihrem Garten schnattern Gänse, picken Hühner, Kaninchen machen Krawall im Stall. Der Teich spendet Hechte und Karpfen. Die Wirtin wirft mit der Forke Luzernehaufen auf schwarz-rosa Schweine. Sind die Schweine fett, macht sie Wurst in der Waschküche.

Das Neue wächst in der Uckermark nicht auf großen Geldhaufen, sondern aus Wagemut. „Das hier ist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist“, sagt Daisy Gräfin von Arnim. Sie kocht Tee in ihrer großen, grünen Küche in Lichtenhain. Um sie herum ist nichts als Raps und Korn.

Seit dem 15. Jahrhundert war die Uckermark Arnimsland, aufgeteilt unter den Sprösslingen dieser mächtigen Land-Dynastie. Das Volk schuftete auf den Gütern, die von Arnims behielten auf Schloss Boitzenburg die Kontrolle. Nach dem Krieg war Schluss, die von Arnims flohen in den Westen. Daisy von Arnim und ihren Mann Michael trieb die Sehnsucht 1995 zurück, ins DDR-graue Inspektorenhaus des Gutes Lichtenhain. Eine Buchhändlerin und ein Landwirt. Mit einem großen Namen, der Erwartungen weckte: „Ich sollte Arbeit geben“, sagt Daisy von Arnim, „aber ich musste Geld verdienen.“

Sie ließ sich das Mosten erklären, hängte eine mobile Mosterei hinters Auto, fuhr die Dörfer ab und sammelte Äpfel aus den Gärten. „Es lag alles herum, ich musste nur aufheben.“ Sie dachte: „Gelee kochen kann eigentlich jede Frau.“ Heute hat sie eine „Frauenpowertruppe“ versammelt. Acht Dorffrauen kochen reihum ein, auf dem Haushaltsherd unterm Dach. Daisy von Arnim verkauft 25 verschiedene Apfelköstlichkeiten, bis nach Berlin. Das verdiente Geld wird aufgeteilt. „Wir helfen uns gegenseitig“, sagt Daisy von Arnim, „die Leute haben sich das bewahrt.“ Im entvölkerten Land rücken die Menschen enger zusammen. Nachbarn leihen sich Butter und Brot und kaufen in der Stadt füreinander ein.

Wie ein Spinnennetz legen sich die Routen der fliegenden Händler über die Uckermark. Inge-Lore Franke rumpelt mit ihrem weißen Lieferwagen dreimal die Woche hundert Kilometer über Land. Sie kurvt hinein ins Dörfchen Warthe, stoppt staubwirbelnd, hupt durchdringend, klappt ihren Wagen auf: Erdbeeren, Tomaten, Suppe in Dosen, Weintrauben. Die rothaarige Gemüsefrau bildet mit den landfahrenden Fleischern, Bäckern und Fischhändlern die Lebensader für die Alten in den Dörfern. „Wir verlassen uns auf sie, und sie verlassen sich auf uns“, sagt Inge-Lore Franke und reicht einen Apfel herunter. Nach einer halben Stunde klappt sie ihren Wagen zu und hinterlässt eine gelbe Staubfahne. Warthe schläft weiter.

Der Wind schnappt sich den Staub, wirbelt ihn hoch in den unendlichen Himmel, treibt ihn übers Land. Er nimmt auch den Reisenden mit sich, hinein in diese Weite, dorthin, wo er sich bald festfahren wird im uckermärkischen Sand. Wo er sich später von gemütlich ihren Durst löschenden Feuerwehrleuten die vielleicht schönste Dorfkirche der Welt aufschließen lässt. Wo er mal wieder nichts zu essen findet, weil der einzige Laden weit und breit nur zwei Stunden am Tag öffnet und er natürlich zu spät kommt. Wo er aber irgendwann stundenlang glücklich unter einem Baum sitzt und weiß: Ich bin angekommen.

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